Max Stirner und Max Scheler
von H. Ibrahim Türkdogan

 
"Das Denken über das Denken hat sich im Abendland als Logik entfaltet." 
- Martin Heidegger - 

Max Scheler. Zeichnung von Otto Dix, 1926

Das Sein des Durch-sich-Seienden *

Stirners Kritik an Staat, Gesellschaft, Moral -- kurz: an allen rationalen und religiösen Zwangsideen, die Stirner fixe Ideen nennt, wurde als sozialkritische Weltanschauung besonders hervorgehoben. Man hat sein über allem stehendes Ich immer im Rahmen des Rationalismus behandelt, selten aber im Rahmen einer Metaphysik oder einer Mystik.  Dabei ist seine Metaphysik oder gar seine mystische Grundhaltung kaum zu übersehen. 

In seinem neuen Buch  Nietzsche. Biographie seines Denkens  bringt Rüdiger Safranski in mancher Hinsicht ein wenig Licht in das "Phänomen" Stirner. So auch ein wenig in unseren Zusammenhang. Safranski, der Stirner als den radikalsten Nominalisten vor Nietzsche bezeichnet, schreibt  folgendes: "Der mittelalterliche Nominalismus hatte den unbegreiflichen schöpferischen Gott gegen eine Vernunft verteidigt, die ihn in ihren Begriffsnetzen einfangen wollte. Der Nominalist Stirner verteidigt das unbegreifliche schöpferische Ich gegen die religiösen, humanistischen, liberalen, soziologischen und sonstigen Allgemeinbegriffe. Und so wie für den mittelalterlichen Nominalisten Gott jenes Ungeheure ist, das sich selbst und die Welt aus dem Nichts geschaffen hat und in seiner Freiheit über jeder Logik, sogar über der Wahrheit steht; so ist für Stirner das Individuum ineffabile ebenso eine Freiheit, die 'ihre Sache auf Nichts gestellt hat’. Auch dieses Ich ist, wie einst Gott, das Ungeheure, denn, so Stirner, 'ich bin nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe’." (1)

Das unaussprechliche Ich Stirners ist Schöpfer und Geschöpf in einem. Der Scheler'sche gegenstandslose Geist ist der Schöpfer in der Rolle des Leiters, der sich durch seinen Drang eine Lebenswirklichkeit verschafft.  Das unaussprechliche Ich wird somit zum  gegenstandslosen Geist.  Mensch- und Gottwerdung sind gegenseitig aufeinander angewiesen, so Scheler. Der Mensch ist das konkrete Wesen mit all seinen Akten; durch diese macht er sich zum Geist, zum unaussprechlichen Ich, zum Gott. Es ist daher verständlich, warum Stirner alle Allgemeinbegriffe zu Geschöpfen erklärt hat. Das Ich muss Schöpfer seines Denkens bleiben. Alle Verbote und Gesetze verhindern Grenzüberschreitungen. Wie kann das Ich selbst Geschöpf seiner eigenen Gedanken werden. Den Gott im Jenseits außer uns hat man getötet, was ist aber das Jenseits in uns? "Gott ist tot, wir haben ihn als Phantom erkannt, aber es gibt noch hartnäckigere Phantome, die uns plagen und, was Stirner den Linkshegelianern vorwirft, die Gottesmörder haben nichts Eiligeres zu tun gehabt, als an die Stelle jenes alten Jenseits ein inneres Jenseits zu setzen."(2)  Dieses Jenseits ist es, das wir uns zu unserem neuen Gott erklärt haben, anstatt unsere eigene Gottheit zu erkennen und an der Gottwerdung zu arbeiten.

Einen Gott, der Glaubensmeinungen und Gebote vorschreibt, sowie einen geistigen, in seiner Geistigkeit allmächtigen jenseitigen Gott, lehnt Scheler vehement ab. Die Götter werden geschaffen, um den Nihilismus zu überwinden und um Bergungen und Stützungen zu finden. Es ist das Über-Ich, in dem der Mensch einen Schutz sucht.

Jeder Gedanke, jedes Wort hindern den Menschen an der Gottwerdung, solange sie als ein Jenseits in uns hausen, solange sie den Ort des jenseitigen Gottes eingenommen haben. Erst der Akt der Gottwerdung, durch-sich-seiend, d.h. durch das vom Jenseits außer und in uns unabhängige Erleben, führt  zur gegenstandslosen Gottheit, zum Ich.

Scheler (1874-1928) kritisiert an Stirner (1806-1856) seinen Auslebeindividualismus (3)  und wirft ihm vor, er habe statt einer geistigen Individualität, lediglich einen Triebindividualismus entwickelt. Stirner habe das leibliche Individuum dem Einzelnen gleichgesetzt. Dieser Auslebeindividualismus  mag auch der Grund dafür gewesen sein, daß  viele Stirner-Gegner in ihm den Apostel des gewöhnlichen, trivialen Egoismus gesehen haben. Und ein solcher endet unmittelbar in Besitzbesessenheit, was Stirner bewusst negiert hat. Nun, da der Mensch nicht mehr Gottes Geschöpf ist, wird er zunächst seinen Trieb als spontanen Akt  realisieren, um ein Individuum, eine freie Persönlichkeit  zu werden. Ein leibliches Individuum allein ist noch kein ganzes Individuum. Erst die Personwerdung kann den Einzelnen kennzeichnen. Der Scheler'sche Geist  verwirklicht sich durch die Person, durch ihren Akt des Fühlens, Erkennens und Wollens, was mehr ist als rationales Denken und intellektualistisches Wissen. Über diese Person sagt Stirner in seiner Schrift Das unwahre Prinzip unserer Erziehung "Das Wissen muss sterben, um als Wille wieder aufzuerstehen und als freie Person sich täglich neu zu schaffen."(4)  Diese Person ist eine von allen –ismen unabhängige, nicht definierbare Person, die aber ebenfalls Fühlen, Erkennen und den Willen impliziert. Stirner, der sich weigert, diese Person zu ideologisieren, bleibt aber doch im logischen Denken und sagt: "will man diejenigen, welche diesem Prinzip folgen, wieder –isten nennen, so nenne man sie meinetwegen Personalisten."(5)  Dieser Personalismus ist es, der sich in seinem späteren Hauptwerk Der Einzige und sein Eigentum als unaussprechlich darstellt. Das Unaussprechliche ist gleichzeitig das nicht Gegenstandsfähige. Denn nur im Rahmen der rationalen Logik ist die Sprache notwendig und nützlich. Wenn die Sprache jedoch nicht nur dem Verstand dient, sondern dem Sein zugrunde liegt, dann ist das Weltproblem ein Sprachproblem. Und Ludwig Wittgenstein kann mit Recht sagen: "Ich bin also der Meinung, die Probleme im Wesentlichen endgültig gelöst zu haben."(6)  Steht das Ich jedoch über der Sprache, dann müsste man sagen: Nichts ist getan, um das Weltproblem zu lösen! Auch Wittgenstein hat das rein logische Denken überwunden, denn er stellt  fest: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische."(7) Und das zwingt Wittgenstein zu seinem letzten Satz, der lautet: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."(8) Auch Stirner zieht aus dieser Einsicht  die Konsequenz  zu schweigen. 

Der Unterschied zu Scheler besteht darin, dass Stirner über das Unaussprechliche schweigt, während Scheler versucht den Rationalismus zu überschreiten. Stirner bricht sozusagen ab - wie Wittgenstein - da er zu Ende gedacht hat. Der nächste (logische) Schritt  ist die Überwindung des Wortdenkens. Stirners Ich entfaltet keine Metaphysik im Detail. Er hütet sich vor der Detailkenntnis über den Gedanken der Unaussprechbarkeit. Er steht am Ende der Logik und am Anfang der Metaphysik und der Mystik.  Schelers Geistperson überwindet die Grenzen der Logik. Deshalb darf er von einem nicht  gegenstandsfähigen und gottwerdenden Geist sprechen, um somit in seiner Metaphysik der zweiten Ordnung das Problem zu behandeln. Hier verlässt das Denken den rationalen Bereich. Scheler denkt im Geist, nicht in der ratio. Um es mit Heidegger zu sagen: Man muss das Wesen des bisherigen Denkens von Grund aus verlernen, um das Denken zu lernen.  Genau das tut Scheler. Hier entsteht mit Recht die Frage: "Was heißt Denken?" Heidegger antwortet: Diese Frage "lässt sich niemals dadurch beantworten, dass wir eine Begriffsbestimmung über das Denken, eine Definition, vorlegen und deren Inhalt  fleißig ausbreiten."(9)  Heidegger, der seine Triebenergie zu sprachlicher Tätigkeit sublimiert, erklärt das Problem an einem simplen Beispiel. Er verbildlicht das Denken:  "Was z.B. Schwimmen heißt, lernen wir nie durch eine Abhandlung über das Schwimmen kennen. Was Schwimmen heißt, sagt uns nur der Sprung in den Strom."(10)  Stirner unternimmt  diesen Sprung nicht, während Scheler im nicht gegenständlichen Geist an der Gottwerdung teilnimmt. Doch wie weit der Geist, der keine Kraft besitzt, sondern nur vom Drang mit Energie beliefert wird, das Sein des Geistes erreicht, um ein reales Leben zu verwirklichen, sei dahingestellt. 

Stirners Kritik am Rationalismus und an der Vernunftperson wird von Scheler für berechtigt erklärt. Und Scheler stellt den Kern seiner individuellen Geistperson über alles, auch über den Staat. Der persönlichen Individualität misst Scheler große Bedeutung bei. Jedoch ist die geistige Individualität für ihn viel wichtiger. Hier scheint Scheler Stirner nicht zu verstehen; was Scheler nämlich nicht erkennt, ist Stirners selbstschöpferische Person, die den Rahmen des Rationalismus bricht und somit auch den Rahmen der persönlichen Individualität verlässt. Denn die folgenden Sätze Stirners nur als Rationalismuskritik zu verstehen, wäre sehr einseitig und eben deshalb rationalistisch: "Kein Begriff drückt mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft mich; es sind nur Namen. (...) Ich hab’ mein' Sach’ auf Nichts gestellt."(11) 

Stirner unterscheidet  zwischen dem empirischen und dem absoluten Ich. Das Empirische ist sich bewusst oder selbstbewusst und eingeschränkt, begrenzt, definierbar -- kurz: es ist das konkrete Ich mit Leib und Verstand. Das absolute Ich ist das uneingeschränkte, unsagbare, nicht gegenstandsfähige. Das Scheler'sche absolute Ich ist das vergängliche Ich Stirners. 

Es ist eindeutig, dass Stirner hiermit dem Rationalismus ein Ende setzt. Die Überwindung des Rationalismus und des Wortrealismus macht die Beschreibung der Elemente, der Begriffe unwirksam und das Ich wird ebenfalls gegenstandsunfähig. Es ist einer Logik nicht zugänglich. Es kann sich nur durch sich selbst erleben. Das wirkliche Erleben selbst aber ist nicht logisch. Das Erlebte kann daher sprachlich nur indirekt mitgeteilt werden, was Stirner auch tut. Und anders als Scheler, begnügt er sich damit, dass er sagt: "Ich bin das Kriterium der Wahrheit, Ich aber bin keine Idee, sondern mehr als Idee, d.h. unaussprechlich."(12)


* Siehe: Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Francke Verlag Berlin und München, 8. Auflage 1975


Fußnoten

(1)  Rüdiger Safranski:  Nietzsche. Biographie seines Denkens. Carl Hanser Verlag, München, Wien,      2000,  S. 128

(2)  R. Safranski, a.a.O., S. 126

(3)  Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Francke Verlag, Bern,        1954, S. 517-518

(4)  Max Stirner: Das Unwahre Prinzip unserer Erziehung, oder: Humanismus und Realismus.  In: Max     Stirner: Parerga, Kritiken, Repliken. LSR-Verlag, Nürnberg 1986,  S. 97

(5)  Max Stirner, a.a.O.,  S. 97

(6) Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1963, S. 8

(7)  Ludwig Wittgenstein, a.a.O., S. 115

(8)  Ludwig Wittgenstein, a.a.O., S. 115

(9) Martin Heidegger: Was heißt Denken? Reclam, 1992, S.15

(10) Martin Heidegger, a.a.O.,  S. 15

(11)  Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum. Reclam Stuttgart, 1981, S. 412

(12)  Max Stirner, a.a.O.,  S. 400.


Der hier leicht geänderte Artikel erschien zuerst in: DER EINZIGE.  Vierteljahresschrift des Max-Stirner-Archivs Leipzig, November 2000


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