Franz Klarwein Bemerkungen zu Ibrahim Türkdogan's „Der Einzige und das Nichts“ (In:
Der Einzige. Nr. 2, 2003, S. 27-28) 1.
Zum Vorwort: 12
u.: Wohl trägt der Kosmopolit „die ganze Welt in sich“, aber nur auf
oberflächliche Weise, denn auch er kann das Gesetz, dass Breite auf Kosten
der Tiefe geht und umgekehrt Tiefe auf Kosten der Breite, nicht
durchbrechen. 13
m.: Der Leidenschaft können „nur schwache Menschen verfallen“? Hegel
weist zurecht darauf hin, dass ohne Leidenschaft noch nie etwas Großes
zustande gekommen sei. In der Tat. Stelle dir einen Künstler, einen tief
Liebenden, ohne Leidenschaft vor. Dinge der Unmöglichkeit! Bei der
Leidenschaft muss äußerst streng zwischen inferioren, wahrhaft schwachen,
und subtilen Leidenschaften, die Stärke erst ermöglichen, differenziert
werden! 17
u.: Ein Verhaftetsein im Lokalen und Geistreichweite müssen sich keineswegs
ausschließen. Kant kam in seinem Leben über 50 km im Umkreis von Königsberg
nicht hinaus; wie viel Geist aber hat er in seinen beschränkten lokalen
Kreis hineingezogen und wie weit ist sein Geist über den Königsberger
Kreis hinausgedrungen! Eitle Professoren aber, deren „Geist“ offenbar
von selbst jeweils keine Beine bekommt, glauben durch Gastvorträge ihm
welche verschaffen zu können. Wirklich starker Geist findet von alleine
seinen Weg, und sei es aus der abgelegensten Provinz. Auch bezüglich des
Massentourismus hat mich Kants Sesshaftigkeit einmal zu dem Epigramm
inspiriert:
Kant würde schmunzelnd es gutheißen:
Je kürzer der Verstand, desto weiter die Reisen. Leute
wie Alexander von Humboldt, bilden hiervon natürlich rühmliche Ausnahmen.
Heideggers Meßkirch aber war ähnlich wie Kants Königsberg, bestimmt zum
Denken wesentlich geeigneter als jedes Stürzen in den Welttrubel derer,
die, weil sie keinen Ruhepunkt in sich, so auch äußerlich nicht finden und
nur ewig auf der Flucht vor sich selber sind! Jeder gesetzte Denker kann
sitzen bleiben wo er sitzt – und sei es in einer bloßen Tonne – denn er
bildet selbst ein Zentrum der Welt, wohingegen nahezu alle sog. „Weltbürger“
nicht einmal sich selbst, geschweige Welt haben und sich nur verzetteln und
verlieren! 2.
Zu: „Stirner und Sartre“: 26
o.: Hier ist die Rede vom Stirnerschen Satz: „Ich hab´ mein´ Sach´ auf
Nichts gestellt“. Dieser Satz mag zwar die Stirnersche Philosophie zu
einem erheblichen Teil fokussieren, ist aber eigentlich kein Satz von
Stirner, sondern von Goethe und der erste Vers seines zwischen 1806 und 1810
entstandenen Gedichts „Vanitas! Vanitatum Vanitas!“ 26
u.: Der letzte Satz dieser Seite hat keine moralische Logik, denn sonst müsste
ich berechtigter Weise auch sagen können: „Bin ich imstande“ ein
Schwerstverbrechen zu begehen, „dann bin ich auch dazu berechtigt, es zu
tun.“ Die Eigenheit interferiert ohnehin gegenseitig auslöschend mit
anderen Eigenheiten derart, dass sie nie sich wirklich entfaltend
funktionieren kann. Da müsste jeder nahezu diktatorische Macht haben, und
das nützte nichts, weil viele Diktatoren sich ebenfalls und sogar wortwörtlich
gegenseitig auslöschen. Und wie kann der seine Eigenheit, mitten in der
Nacht – besonders reizvoll wegen fehlender Nebengeräusche – Posaune
blasen zu wollen, ausleben oder auch nur anheben, wenn er sich nicht
zugleich ein sehr frei stehendes Haus leisten kann?! 25
m. und 27 m. stehen im Widerspruch mit folgenden Sätzen: Der Mensch sei ein
„von Natur aus vollendetes...Wesen“ und „Der Freigewordene“ – auch
ein Mensch! – „muss sich erst vervollkommnen“. Zu
„Max Stirner und Max Scheler“: 40
u.: Wer zu Ende gedacht hat, hat mit Sicherheit nicht weit gedacht, denn die
Probleme nehmen mit dem Weiterdenken nicht ab, sondern zu. Dessen eingedenk
ist ein nicht vorgefasstes Zieldenken, also ein Denken, bei dem nicht die
Willenskraft die Denkkraft übersteigt, sondern umgekehrt, wohl abzubrechen,
bestenfalls künstlich abzurunden, aber nicht eigentlich zu Ende zu bringen.
Wittgenstein glaubte, weil er zunächst nicht weit gedacht hatte, mit seinem
Traktatus das Denkbare und Sagbare zu Ende gebracht zu haben. Nach Jahren
sind ihm Bedenken gekommen, und es schloss sich eine sog. „Philosophie
II“ an, die wesentlich umfangreicher ist als die mit „Philosophie I“
etikettierte Philosophie um den Traktatus herum. 42:
Auch das empirische Ich ist nicht definierbar, nur höchst unvollkommen
beschreibbar; auch für es gilt strenggenommen die bekannte Einsicht:
individuum est ineffabile. Das sagt Stirner selbst in dem angegebenen Zitat
aus seinem Hauptwerk. „Ich bin...unaussprechlich“. Zu
„Die Uneigentlichkeit der Völker und der Einzige“ 59
o.: Sublimierung ist keine Triebunterdrückung, sondern eine
Triebkanalisierung, Triebumlenkung, Triebverwandlung und schon gar keine
„Unterdrückung der Seele“. Wenn ich meinen erotischen Trieb zu einem
Liebesgedicht sublimiere, dann gebe ich der Sache Wort, Ausdruck,
Entfaltung, sogar in bleibender Gestalt. Zu
„Omar Chajjam und Max Stirner“: 72
o.: Ob Goethe fähig gewesen wäre „Omar den ihm gebührenden Platz einzuräumen“
ist höchst fraglich. „Goethe aber war und ist eine Autorität“. Gewiss
in mehrfacher Hinsicht, aber nicht als Beurteiler anderer Dichter, denn er
hat Kleist, Hölderlin, Novalis und andere ganz falsch beurteilt, womit
empirisch bewiesen ist, dass Genie nicht zwangsläufig Genie erkennt und
dass jemand, der auf einem bestimmten Gebiet Großes geleistet hat, damit
nicht automatisch eine Kompetenz par excellence ist, anderer Leistungen auf
demselben Gebiet beurteilen zu können. 73
m.: „Ich bin alles gewesen, aber nichts lohnt die Mühe.“ Abgesehen
davon, dass man in seinem kurzen Leben nicht alles gewesen sein kann,
bedeutet dennoch Weiterleben ein permanentes Ankämpfen gegen den Verdacht
der Richtigkeit dieses Satzes. Gewiss können wir aus der Perspektive
unserer mittlerweile nicht wenig respektablen Lebenserfahrung sagen, dass es
nicht viel sein kann, was die Mühe lohnt. Allzuvieles hat enttäuscht. Aber
vielleicht gehört die große Liebe zu dem wenigen, das selbst die größte
Mühe lohnt? Oder ist auch sie eine bloße Illusion? Ich weiß es nicht und
wahrscheinlich könnte erst ihr Erleben darüber Aufschluss geben, ob Mühe
und Glück in einem rentablen Verhältnis stehen. 78
m.: Schopenhauer setzt Ding an sich und Wille nicht gleich! 78
u.: Der Wille ist natürlich auf Lust und Genuss aus. Aber sie sind nach
Schopenhauer keine positiven Gefühle, sondern nur vermindertes Leid. 81
o.: Determinismus und Forderung nach Verneinung des Willens zum Leben stehen
bei Schopenhauer im Widerspruch wie auch seine Misanthropie mit seiner
Mitleidslehre. 83
u.: Eine Welt ohne Ideologien ist noch lange keine Welt ohne Übel. Eine
Krankheit ist keine Ideologie, es sei denn, dass man moralische Defizite zu
Krankheiten erklärt, wie das ja in unserer zunehmend pseudomoralischen Welt
modern geworden ist. 84
u.: Erklärungen, Ideen sind nicht eo ipso schon Ideologien. Das werden sie
erst durch Allgemeinverbindlichkeit beanspruchende Dogmatik. „Ich
bin das Kriterium der Wahrheit...“ Nein, ich bin das Kriterium meiner
Wahrheit! 90
o.: Die Einzigen, die Menschen, lauter Götter? Genausogut oder besser könnte
man sie „lauter Idioten“ nennen und käme dadurch der Wahrheit mit
Sicherheit näher! 90
m.: „Stirner sieht in jedem Wort ein Gespenst“. Beim Wort genommen hieße
das unter anderem auch: Stirners Philosophie besteht aus lauter Gespenstern.
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